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2021 litten rund 700 bis 830 Millionen Menschen weltweit an "echtem" Hunger. Doch wonach hungern wir eigentlich hier?

Veröffentlicht am
22.10.2023
Dr. phil. Roland Müller Essen Kuchen Diät Abnehmen Bing Eating Hunger

Der Umsatz der Diätindustrie wird für das Jahr 2020 weltweit auf unfassbare 423 Milliarden Dollar geschätzt. Abnehmen, aber wie? Und woher kommt dein Hunger? 

Wie kann das sein? Es weiss doch jeder wie man abnimmt? Weniger Essen, mehr Bewegung, oder etwa doch nicht?

Laut der UN litten 2021 rund 700 bis 830 Millionen Menschen weltweit an Hunger. An "echtem" Hunger.
Gleichzeitig werden jedes Jahr ca. 931 Millionen Tonnen Essen weggeschmissen. Und trotzdem gibt es fast zwei Milliarden Übergewichtige.
Wie kann das alles sein? Wie geht das auf und wonach hungern wir eigentlich hier?

Ein paar Pfunde weniger - oder mehr?

Wenn ich meine Coaching-Klienten nach ihren Zielen frage, kommt manchmal auch: "Ausserdem möchte ich noch ein paar Pfunde verlieren - oder zunehmen - je nachdem.
Viele Menschen möchten also nicht nur ihr Leben, sondern auch ihren Körper optimieren. Die Gründe dafür sind dabei völlig unterschiedlich. Bei manchen geht es um Selbstliebe oder Selbstwert, bei anderen ganz klar um die Gesundheit.

Aber ist Essen nicht etwas Intuitives, etwas Natürliches? Und ist Abnehmen nicht das Logischste überhaupt?
Weniger essen, mehr Bewegung.
Ist also alles nur eine Frage der Disziplin? Isst du, auch, wenn du bereits satt bist? Warum machst du das?
Um ein bisschen mehr Licht ins Dunkel zu bringen, habe ich meinen Freund und Ess-Experten, Dr. phil. Roland Müller um Rat gefragt. Das Resultat ist dieser wissenschaftlich fundierte, aber auch sehr persönliche Blog.

Du bist was du isst - wenn es beim Essen um mehr als Hunger stillen geht

Ich erinnere mich immer noch gerne an die Momente, wenn ich als Kind das erste Stück von Mutters Marmorkuchen essen durfte, noch lauwarm - am Tisch zusammen mit meinem Bruder sitzend, dazu noch ein Glas Himbeersirup. Auch wenn ich dies jetzt schreibe, wird mir gerade etwas warm ums Herz. Ich denke jetzt auch an die Schokoladenwürfel, die meine Grossmutter immer in Deutschland kaufte und uns jeden Sonntag eine Tüte davon mitgab, oder diesen einen Abend, als unser Haus voller fröhlicher Gäste war und unsere Mutter ein unglaublich leckeres und aufwendiges Essen für alle zubereitete.

Später jedoch kam eine Zeit, in der die Kinderärztin meinte, mein Bruder und ich wären am oberen Ende der Norm mit unserem Gewicht. Es gab auch schon mal abwertende Kommentare von Mitschülern, das Glücksgefühl aus der Kindheit wurde zersetzt, die Schokolade und der Marmorkuchen verloren ihren wohligen Geschmack. Über die Zeit hat sich aber alles eingependelt. Der Biss in eine Süssigkeit bringt wieder einen zarten Hauch der warmen Erinnerung zurück, und mit einem kleinen Lächeln im Gesicht gehe ich in meinem Alltag weiter.
Allerdings durfte ich in den letzten zwölf Jahren in der psychotherapeutischen Arbeit mit Menschen mit Übergewichtsproblemen erleben, dass sich die früheren Erfahrungen nicht bei allen wieder eingependelt haben und nebst einem hohen Leidensdruck viele Fragen der Betroffenen nach dem «warum ist denn das bei mir so?» auftauchen.
Gehe ich in einen grösseren Lebensmittelladen, lacht mich ein mindestens fünf Meter langes Regal mit Schokoladentafeln in unterschiedlichsten Formen und Farben an. An der Kasse schliesslich lockt nochmals auffällig bunt verpacktes Schleckzeug und sagt meinem Gehirn, es könnte sich doch jetzt noch einmal an den Marmorkuchen meiner Mutter erinnern, zumindest indem es den Zucker, wie er auch im Teig verbacken war, wieder erspüren könnte. Und für einen Moment frage auch ich mich: Wieso ist das denn alles so?

Nahrungssicherheit

Im Verhältnis zur gesamten Menschheitsgeschichte erleben wir in unseren westlichen Breitengraden erst seit einer relativ kurzen Zeit eine Phase, in der das Nahrungsmittelangebot für die allermeisten Menschen mehr als ausreicht. Experten behaupten gar, dass uns ein richtiges Hungergefühl abhandengekommen ist. Man könnte also behaupten, dem westlichen Menschen gehe es so gut wie nie zuvor. Gerade wurden wieder die neuesten Zahlen für Übergewicht und Adipositas vorgestellt (Adipositas gilt ab einem Body Mass Index - kurz BMI - über 30, wobei sich der BMI definiert als Gewicht durch Körpergrösse in Metern im Quadrat).
Weltweit gesehen war in 2016 rund jede 8. Person adipös. In Deutschland sind aktuell zwei Drittel der Männer und die Hälfte aller Frauen übergewichtig, wobei rund ein Viertel aller Erwachsenen adipös ist. In der Schweiz war in 2017 jede dritte Person übergewichtig und jeder 10. Erwachsene adipös.
Aus dem Übergewicht entstehen viele körperliche und psychische Probleme wie Gelenkbeschwerden, Organschäden und Depressionen. Die steigende Rate für Übergewicht führt damit zu steigenden Raten für weitere Folgekrankheiten. Die Nahrungssicherheit führt also nicht nur zu Wohlbefinden, es entstehen auch neue gesundheitliche Probleme. Geht es uns also wirklich soviel besser als unseren hungernden Vorfahren?

Essen tut uns gut!

Forschung zur Entstehung von Übergewicht betrachtet mittlerweile nicht nur körperliche Prozesse wie Verbrennungsvorgänge im Körper, Hormonstörungen oder Stoffwechselprozesse, sondern auch die Psychologie des Essverhaltens und die emotionale Wirkung des Essvorgangs.
Eines ist mittlerweile auch wissenschaftlich gesichert: Essen tut uns gut! Bei der Nahrungsaufnahme entspannt sich der gestresste Körper, sind Fett und Zucker im Blut, werden im Gehirn mehr Glückshormone in der Entspannung ausgeschüttet. Bereits vor der Geburt passieren Geschmacksprägungen beim ungeborenen Kind aufgrund dessen, was die Mutter isst. Mag die Mutter Süsses, mag es auch das Kind. Später bahnen sich im mesolimbischen Teil im Gehirn, also in den Schaltstellen für Emotionen und Körperempfinden, weitere Konditionierungen von Geschmack, diesmal aber mit Gefühlszuständen gekoppelt.
Wenn wir als Kind dann mit Süssigkeiten belohnt oder getröstet werden, verbindet unser Unterbewusstsein diese Geschmacksreize über die Entspannung und die chemische Ausschüttung der Glückshormone mit positiven Gefühlszuständen. Je ausgeprägter dies in jungen Jahren geschieht, desto eher funktionieren wir als Erwachsene nach diesen Programmen.

Stress, Stress, Stress

Dem Modell fehlt jedoch noch ein Baustein: unser Stress. Körperlich gesehen gibt es nur eine Stressreaktion – und die haben wir immer. Je stärker uns ein Thema beschäftigt, desto stärker reagiert auch unser Körper mit seiner Stressreaktion. Jetzt kommt ein entscheidender Faktor: Je stärker unsere Konditionierung darin besteht, positive Gefühle mit Essverhalten zu erzeugen, desto eher reagieren wir bei unangenehmem Stress mit Essen.
Das, was uns stresst, ist wiederum eine weitverzweigte Geschichte von neuronalen Verknüpfungen, alten Prägungen und Konditionierungen. Meist läuft diese Stresserinnerung unterbewusst ab, also so, dass wir es gar nicht merken. Aus der Forschung zu Übergewicht weiss man beispielsweise, dass viele Betroffene bereits eine belastende Kindheit erfahren haben, Depressionsraten hoch sind und das Übergewicht selbst zu einem grossen psychischen Stressfaktor wird.
Andererseits schützt die Sorge um Essverhalten und Übergewicht davor, sich mit anderen schwierigen Lebensthemen auseinandersetzen zu müssen. Stresshormone führen zudem zu einer biochemischen Veränderung im Körper, indem dieser dann Fettsäuren weniger schnell abbaut und sogar noch schneller Fett in die Fettzellen einlagert. Hinzu kommen viele weitere chemische Prozesse im Körper, die sich mit zunehmendem Körperfettanteil verändern und wiederum auch einen Einfluss auf die Psyche haben können: Zum Beispiel das Hormon Ghrelin, das für die Sättigungswahrnehmung wichtig ist oder aber der Botenstoff Serotonin, das an der Stressregulation beteiligt ist.

Übungen und Hilfestellungen aus der Praxis

Essverhalten und (Über)-Gewicht sind also komplexe Themen und Hunger alleine motiviert uns heute bei Weitem nicht mehr als einziger Reiz zur Nahrungszufuhr. Ein einfaches Patentrezept gibt es nicht. Im Folgenden sind einige Hilfestellungen aus der Praxis aufgeführt, die in der Bewältigung von stressbedingtem Essen angewendet werden können:

  • Hunger und Lust unterscheiden: Hunger ist ein physiologisches Bedürfnis nach Energie, Lust ist ein emotionales Bedürfnis nach guten Gefühlen. Bei Hunger würden wir fast alles essen, Lust ist auf bestimmte Nahrungsmittel gerichtet: Fragen Sie sich also bei einem Knurren im Bauch: Würden Sie alles essen oder würde die Karotte anstelle der Schokolade das Wasser im Mund nicht wirklich abstellen?
  • Protokollieren Sie für ein paar Tage Ihr Essverhalten. Das alleinige Dokumentieren hilft, ungeplantes zwischendurch Essen zu reduzieren und mehr bewusste Wahrnehmung ins Essverhalten zu bringen.
  • Üben Sie, den Impulsen Ihres Gehirns nicht immer gleich nachzugeben. Besonders gut eignet sich der Gang durch den Lebensmittelladen. Achten Sie dabei einmal bewusst darauf, was der Anblick verschiedener Lebensmittel bei Ihnen auslöst. Was würden Sie am liebsten kaufen? Und warum? Wagen Sie Experimente: gehen Sie hungrig einkaufen oder aber satt. Oder vergleichen Sie Ihren Einkauf, wenn Sie zuvor einen Zettel geschrieben haben oder aber ungeplant durch den Laden gehen.
  • Vermeiden Sie rigide und strikte Veränderungspläne: immer – nichts - nie mehr - sind Wörter, die gerade bei der Veränderung des Essverhaltens mit einem Scheitern in der Umsetzung verbunden sind und zu Stress führen. Planen Sie flexible und realistische Ziele, die in Ihren (hektischen) Alltag passen.
  • Fragen Sie sich: Was kann mir sonst in meinem Alltag ein Gefühl von Entspannung bringen – aber Vorsicht: Das Gehirn will auf dem Weg des geringsten Widerstandes zum Ziel kommen, das heisst Glücksgefühle und Energienachschub sicherstellen. Ein kurzer Spaziergang an der frischen Luft ist für das Gehirn mit mehr Energieaufwand verbunden als ein Stück Schokolade – erwarten Sie also im ersten Moment eher, dass sie eine kleine Hürde nehmen müssen, bevor es zum Selbstläufer wird.
  • Halten Sie Ihre Esslust aus und schauen Sie, was passiert. Esslust folgt dem typischen Muster der Stressreaktion: Sie wird schnell intensiv, ist einen Moment sehr drängend, bevor der Körper langsam müde wird und den Stress nicht länger zu produzieren vermag. Dies dauert in der Regel etwa 30 Minuten. Wie fühlt sich dies bei Ihnen an?
  • Erschrecken Sie nicht: das Aushalten der Esslust mag Ihnen immer mehr Mitteilungen liefern, wo in Ihrem Alltag die wahren Stressquellen liegen – das sind nicht immer nur angenehme Informationen. Im Bewältigen von Stress- und Lebensthemen liegt ein wichtiger Schlüssel in der Veränderung des Essverhaltens. Bei schwierigen Themen kann der Gang zu einer professionellen Unterstützung indiziert sein.

Wenn sie das Gefühl haben, dass sie mehr benötigen als ein paar gute Tipps, zögern sie nicht, mich zu kontaktieren.

Ihr Roland Müller

Nachwort

Vielen lieben Dank, lieber Roland!

Unser Körper ist mehr als nur ein Mittel zum Zweck, dass man kontrollieren muss. Unser Körper ist auch einer der Schlüssel und der Träger für unser Leben. Du bist auch dein Körper.
Und: Unser Körper lügt nie. Also, hören sie auf ihn, bleiben sie liebevoll mit sich selber und ihrem Körper, das ist es doch, was wir alle wollen und verdient haben.

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